Donnerstag, 5. April 2012
Die Kraft des lyrischen Wortes
5. April

Ich weiß ja nicht, wie es euch damit geht – aber ich bin durchaus erfreut, welche Wirkung die Kunst allen Unkenrufen zum Trotz in unserer Zeit doch noch hat. Friedrich Wolf hätte seine Genugtuung: „Kunst ist Waffe“ – jawoll! Obwohl: Kunst?! Na ja, also, die lyrische Poesie war noch nie die Stärke unseres Nobelpreisträgers. Dass er Geschichten erzählen kann, wissen wir seit der Blechtrommel, und zeichnen und modellieren kann er auch. Und ein politischer Mensch ist der alte Herr schon immer gewesen, zu unterschiedlichen Zeiten sogar. Doch als Lyriker ist Grass eigentlich noch nie wahrgenommen worden, oder? Aber jetzt – und wie!
Obwohl mich diese ungeheure Resonanz, dieses Rauschen im Blätterwald, das Raunen im Rundfunk, das Zwitschern im Web und die eilfertige Betroffenheit diverser Gesichter im TV dann doch erstaunt. Was ist eigentlich passiert? Da hat also jemand ein Gedicht veröffentlicht, das sich – entgegen sonstigen künstlerischen Gepflogenheiten – mit der tagesaktuellen Politik befasst. Dieser Jemand ist der bekannteste lebende deutsche Dichter, und er hat sich internationaler Podien bedient, von denen herunter gesprochen seinen Worten die gebührende Aufmerksamkeit gewiss war. Aber, Freunde, ist es nicht am Ende noch immer nur ein Gedicht?! Eines zudem – ich erwähnte es –, das nicht unbedingt durch sorgsame Rhythmik, poetische Bilder oder schlüssige Reime beeindruckt. Formal erinnert es zwar ein wenig an Goethes provokante Prometheus-Ode, aber welch Abstand zum lyrischen Pathos des Sturm und Drang?! Wenn auch das provokante Potenzial der Grass’schen Strophen beinah mithalten kann mit jenem "Zündkraut einer Explosion", wie nun klar wird (Goethe seinerzeit war ja wesentlich vorsichtiger: Er hat sein höchst politisches Gedicht, als es ihm aus der Feder geflossen, vorsorglich versteckt und erst viel später der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben). Grass aber sagt, er habe schon zu lange ge- und damit verschwiegen. Nun spricht er also, nutzt sein lyrisches Ich, um (sich selbst zunächst, das sei betont) unbequeme Fragen zu stellen, die ihn als Homo politicus kenntlich machen, der auch seine eigenen Irrungen nicht ausklammert (ausgerechnet der Grass mit seiner SS-Jugend, sagen manche jetzt; doch er spricht ja auch davon und nennt seine Herkunft „von nie zu tilgendem Makel behaftet“). Soll er deshalb nicht reden dürfen?
Sachliche Fehler sind dem Text jedenfalls nicht vorzuwerfen. Israel entzieht sich als Atommacht jeglicher internationaler Kontrolle; die Schlagkraft seiner Kernwaffen kann bestenfalls vermutet werden. Die israelische Gesellschaft ist eingedenk leidvoller Erfahrungen militärisch extrem durchgestylt, und das ist nicht nur ihr Habitus, sondern ihre Handlungsmaxime, wobei (man denke an 1967) der Erstschlag, um dem (realen wie angenommenen) Feind zuvorzukommen, die Strategie bestimmt. Das von Deutschland geschäftsmäßig gelieferte U-Boot ist ebenfalls nicht zu leugnen, und dass eine Provokation die andere nach sich zieht, ist auch jedem bewusst. Ob die Demonstration militärischer Stärke und politischer Entschlossenheit in so einer brisanten Situation und dazu noch in „einer von Wahn okkupierten Region“ zur dauerhaften Abschreckung ausreicht, darf bezweifelt werden, zumal der iranische „Maulheld“ ja gerade daraus seine Legitimation ableitet für den „organisierten Jubel“ und mehr.
Vielleicht sieht das lyrische Ich, das Grass seinem Gedicht einschreibt, manche Kausalitäten und Zusammenhänge auf sehr eigene Weise, zugegeben. Darüber kann man nachdenken, darüber muss man reden. Aber: Welche political correctness erwarten denn jene von der Kunst, die Grass ob seines Textes nun wütend angreifen, harsch kritisieren oder als Antisemiten (der er schon immer gewesen sei) verunglimpfen? Jene DDR-Friedenslieder-Mentalität von 1980 etwa, die die (von Biermann als „Kaiser-Geburtstagssänger“ gegeißelten) FDJ-Singebeweger im Duktus des vertonten Zentralorgans ihren pseudokünstlerischen Absonderungen zugrunde legten? Da lobe ich mir doch lieber das garstige, „mit letzter Tinte“ entäußerte Grummeln des alten Mannes und freue mich ob der Aufregung, die ein Gedicht in unserer Zeit noch zu verursachen vermag.

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