Mittwoch, 20. Juni 2012
Über Medien und Wirklichkeit
Also, dass Jogi Löw zu Zeiten einer EM immer für Schlagzeilen gut ist, wird niemanden verwundern. Zumal sein Team – also unsers – nun gegen die Griechen ran muss, die auf dem grünen Rasen ja mindestens genauso unbequem sind wie in der globalen Finanzpolitik. Aber in diesem Falle boten nicht die Ballkünste seiner Jungs (die ohnehin bisher nur selten aufblitzen) den Anlass für mediale Diskurse, sondern ein kleines Kabinettstückchen, das er selbst fabrizierte im Spiel gegen Dänemark: Millionen Fernsehzuschauer sahen in der 22. Minute (es stand noch nullzunull und damit gar nicht so gut für Deutschland) seinen kecken Lupfer, mit dem er einem Balljungen von hinten das runde Leder unterm Arm wegstupste. Verschmitzt lächelte er dabei, der Bundestrainer – schau an, dachten wir, so locker nimmt er das Gewürge auf dem Platz, wohl ahnend, dass uns am Ende ein debütierender Rechtsverteidiger allen Sorgen entheben würde. Ja, denkste: Inzwischen wissen wir nun alle, dass diese Szene bereits vor Spielbeginn passiert war und dann von der UEFA-Bildregie (nicht UFA, nein, wirklich: UEFA!) reingeschnitten wurde, ohne kenntlich zu machen, dass es sich hierbei um eine Aufzeichnung, eine MAZ also, handelt. Das Feuilleton tobte…
Medien konstruieren Wirklichkeit. Das wussten wir doch schon immer, und ich bin eigentlich dankbar, wenn so ein Beispiel mal aufgedeckt und damit als lehr- und erkenntnisreiches Exempel nutzbar gemacht wird. Insofern kann ich die Aufregung, mit der sich andere Medien in ihren Kommentaren auf das relativ zufällig gefundene Fressen stürzten, nicht recht nachvollziehen; zu vermuten ist, dass die es oft genau so machen, ohne dabei erwischt zu werden. „Eines Tages werden wir vielleicht unseren Augen nicht mehr trauen können“, las ich in einem der Kommentare, rieb mir selbige und fragte mich, ob das denn jemals in den letzten hundert Jahren möglich gewesen sei. Schließlich ist die Mediengeschichte übervoll an Beispielen, wie durch immer perfekter ausführbare Bildmanipulationen gefällige Realitäten hergestellt und missliebige Sachverhalte eliminiert wurden und werden. Wer Gelegenheit dazu hat: Die Ausstellung „X für U – Bilder, die lügen“ des Hauses für deutsche Geschichte tourt durch die Lande und ist immer mal an wechselnden Orten zu sehen – es lohnt sich. Und in ganz eigener Sache sei daran erinnert, dass an jenem denkwürdigen 9. November des Jahres 89 die ARD-Tagesschau, die gemeinhin als moralische Instanz für das Richtige, Wahre und Wahrhaftige gilt, um punkt 20 Uhr den Schriftzug „DDR öffnet Grenze“ einblendete. Da war es gerade mal eine Stunde her, dass der Genosse Schabowski seinen Knüllzettel verlesen hatte mit der Aussicht auf erleichterte Reisemöglichkeiten. Doch siehe da: zwei Stunden nach der ARD-Prophezeiung erfüllte das neugierig gewordene DDR-Volk sie sich selbst, und auf dem Ku’Damm knallten die Sektkorken mit den Trabi-Fehlzündungen um die Wette. Man stelle sich vor, am nächsten Tag wäre die ARD empört gerügt worden für ihren Eingriff in die Wirklichkeit: So, April, April, liebe Leute, wir drehen mal alles wieder auf Anfang und schließen die Grenze fein zu, damit ihr eure Anträge stellen könnt, wie es der Onkel Günther empfohlen hat.
Na, dann doch lieber die virtuelle Realität, in der wir seither leben dürfen, oder?

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