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Montag, 20. April 2020
Ein Innehalten, ein Besinnen und ein Neubeginn
zirkustiger, 11:12h
Die Literatur in den Zeiten von Corona… - zugegeben, das klingt etwas bemüht nach Gabriel García Márquez, dem kolumbianischen Literaturnobelpreisträger, und seinem großartigen Roman über die ein halbes Jahrhundert überdauernde Leidenschaft Florentinos für Fermina. Erst die über ihrem Dampfer auf dem Rio Magdalena gehisste gelbe Cholera-Flagge garantiert den beiden Alten das späte Glück einer ungestörten Zweisamkeit. So ziehen sie die selbst gewählte Isolation dem Leben in einer zunehmend befremdlichen Normalität vor.
Nein, das passt natürlich gar nicht auf unsere Corona-Krise. Und doch lohnt es sich, gerade jetzt ein wenig über Literatur nachzudenken, ist sie doch – wie inzwischen jede Facette unseres Lebens – vom Virus betroffen. Vielleicht sogar mehr als andere Bereiche, vielleicht weniger, auf jeden Fall aber anders, auf ganz eigene Weise eben.
Eines der ersten überregionalen Events, die der Krise zum Opfer fielen, war die Buchmesse in Leipzig. Die Absage kam spät, verzögert und verbunden mit dem Bemühen, aus der Not eine Tugend zu machen: Virtuelle Lesefeste wurden versprochen anstelle der nun abgesagten Begegnungen mit Autorinnen und Autoren, in Leipzig wie in Halle. Nun ja. Die Messe als kulturökonomisches und kommunikatives Ereignis lässt sich so ohnehin nicht ersetzen. Und den atmosphärischen Charme einer Lesung kann das Netz auch nicht vermitteln. Damit will ich das ehrliche Bemühen der vielen, denen Literatur und ihre Vermittlung am Herzen liegen, keineswegs schmälern. Aber es wäre fatal, wenn wir diese Virtualisierung als rundum gelungen bezeichnen – es würde einen aus der Not geborenen Status überbewerten, der auch künftig bestenfalls eine Ergänzung, keinesfalls aber eine neue Form von Normalität des literarischen Angebots sein sollte. Das Literaturhaus Halle ist schließlich ein reales Gebäude, ein stattliches obendrein, und es wird wieder gefüllt werden mit einem opulenten Programm rund um Literatur, Kunst und Leben.
Demgegenüber bemerkenswert die Tatsache, dass ausgerechnet Buchhandlungen in unserem Bundesland nicht von der allgemeinen Geschäftsschließung betroffen waren. Was darf man als Grund vermuten? Dass in multimedialen und digitalisierten Zeiten die Buchläden ohnehin nicht gerade überfüllt sind, sodass der Mindestabstand gewahrt bleibt? Dass Bücher in Zeiten der Krise als geistige Nahrung wie auch als notwendiger Zeitvertreib verfügbar bleiben sollten? Dass der übermächtigen Konkurrenz von Amazon & Co. nicht noch mehr Vorschub geleistet werden sollte? Wie dem auch sei – es war ein schönes Zeichen in Zeiten des Shut Downs, dem öffentlichen Leben zwischen den Bücherregalen ein Refugium zu gewähren. Ein Zeichen, mit dem sich das zeitweise Verbot, allein auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, allerdings so gar nicht vereinbaren lässt…
Was aber sollte man lesen, vielleicht gerade jetzt? Mit Empfehlungen ist das ja stets so eine Sache, ganz abgesehen von Leselisten, die uns dereinst die Schullektüre verpflichtend vorschrieben, oder einem Kanon der unverzichtbaren Werke, egal ob von Marcel Reich-Ranicki oder wem auch immer aufgestellt. Soll ich es dennoch versuchen? Nun, García Márquez nannte ich schon. Ein praller, poetischer und ergreifender Roman über die Liebe, das Altern, die Erfüllung und vor allem die nicht endende Hoffnung. Das passt dann doch in diese Zeit, nicht wahr? Ich selbst entdecke gerade Margaret Atwoods „Der Report der Magd“. Der Kanadierin würde ich, unter uns gesagt, den nächsten Literaturnobelpreis zuerkennen. Auf jeden Fall habe ich mir schon die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ auf meine Merkliste gesetzt. Schlöndorffs Verfilmung als „Geschichte der Dienerin“ kannte ich natürlich schon; die literarische Vorlage war mir bisher unerklärlicherweise entgangen. Und das, wo ich doch eigentlich ein Faible für gesellschaftliche Utopien und Dystopien habe, was mich zum dritten Tipp bringt: Aldous Huxley und – nein, mal nicht die „Schöne neue Welt“, sondern – sein viel später erschienener letzter Roman „Eiland“, der mit der Insel Pala einen spannenden Gegenentwurf liefert, auch wenn die dortige (fast) ideale Gesellschaft am Ende durch eine militärische Invasion untergehen wird.
Das Nachdenken über eine künftige Gesellschaft, deren Wesen nicht die Rückkehr zur Normalität vor Corona sein kann, beschäftigt uns ja derzeit alle irgendwie. Das meint das eigene, private Leben in Partnerschaft, Familie und Freundeskreis ebenso wie die Zukunft von Wirtschaft und Arbeit, von Handel und Tourismus, von Umwelt und Kultur. Und da sind literarische Modelle so etwas wie fiktive Wegzeichen, die anregend sein können oder abstoßend, in jedem Fall aber zur Auseinandersetzung reizend. In diesem Sinne noch rasch zwei letzte Lektürevorschläge: Der Philosoph Richard David Precht hat mit „Jäger, Hirten, Kritiker“ eine Utopie der digitalen Gesellschaft entworfen, die mich in ihrer Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven überzeugt. Und mit dem Philosophen Wilhelm Schmid und seinen schmalen, gut lesbaren Bändchen wie „Gelassenheit“, „Vom Glück der Freundschaft“, „Die Kunst der Balance“ oder „Von den Freuden der Eltern und Großeltern“ kann man einiges über die Kunst des gelingenden Lebens lernen, was gerade in Zeiten wie diesen von Nutzen sein kann.
Zeiten wie diese werden auch die Literatur selbst, genauer gesagt ihre Produzentinnen und Produzenten anregen. Erste Texte zu Corona erscheinen bereits. Der 91jährige tschechische Autor Pavel Kohout hat sein Virus-Stück gerade in einer Onlinelesung aus einem leeren Prager Theater vorgestellt. Oft war die Literatur der Wirklichkeit voraus, jetzt darf und muss sie diese Realität verarbeiten, reflektieren, deuten. Wir stecken ja noch mittendrin und brauchen doch auch den Abstand, der relativiert. Was gestern normal war, scheint heute unendlich fern; die heutige Regel kann schon morgen außer Kraft gesetzt werden. Ob ich selbst darüber schreiben können werde, weiß ich noch nicht. Derzeit versuche ich – seit März offiziell „Altersrentner“ – damit klarzukommen, dass mein Übergang in den Ruhestand eines singenden, wandernden und reisenden Großvaters so ganz anders verläuft als gedacht. Der März-Urlaub auf La Gomera musste abgebrochen werden, der Harz ist aktuell eine verbotene Zone. Die für das erste Halbjahr geplanten Lesungen und Konzerte sind erst einmal abgesagt oder verschoben, weiteres muss man sehen. Dass in Krisen immer auch Chancen stecken, ist ein zuletzt viel beschworener Allgemeinplatz. Dennoch bewahre ich mir als Autor und Mensch so viel utopisches Potenzial, dass ich an eine Zukunft glaube, die kein Rückfall ins Gewesene sein kann, sondern in Vielem ein Innehalten, ein Besinnen und ein Neubeginn. Wahrlich, wir leben in spannenden Zeiten…
Nein, das passt natürlich gar nicht auf unsere Corona-Krise. Und doch lohnt es sich, gerade jetzt ein wenig über Literatur nachzudenken, ist sie doch – wie inzwischen jede Facette unseres Lebens – vom Virus betroffen. Vielleicht sogar mehr als andere Bereiche, vielleicht weniger, auf jeden Fall aber anders, auf ganz eigene Weise eben.
Eines der ersten überregionalen Events, die der Krise zum Opfer fielen, war die Buchmesse in Leipzig. Die Absage kam spät, verzögert und verbunden mit dem Bemühen, aus der Not eine Tugend zu machen: Virtuelle Lesefeste wurden versprochen anstelle der nun abgesagten Begegnungen mit Autorinnen und Autoren, in Leipzig wie in Halle. Nun ja. Die Messe als kulturökonomisches und kommunikatives Ereignis lässt sich so ohnehin nicht ersetzen. Und den atmosphärischen Charme einer Lesung kann das Netz auch nicht vermitteln. Damit will ich das ehrliche Bemühen der vielen, denen Literatur und ihre Vermittlung am Herzen liegen, keineswegs schmälern. Aber es wäre fatal, wenn wir diese Virtualisierung als rundum gelungen bezeichnen – es würde einen aus der Not geborenen Status überbewerten, der auch künftig bestenfalls eine Ergänzung, keinesfalls aber eine neue Form von Normalität des literarischen Angebots sein sollte. Das Literaturhaus Halle ist schließlich ein reales Gebäude, ein stattliches obendrein, und es wird wieder gefüllt werden mit einem opulenten Programm rund um Literatur, Kunst und Leben.
Demgegenüber bemerkenswert die Tatsache, dass ausgerechnet Buchhandlungen in unserem Bundesland nicht von der allgemeinen Geschäftsschließung betroffen waren. Was darf man als Grund vermuten? Dass in multimedialen und digitalisierten Zeiten die Buchläden ohnehin nicht gerade überfüllt sind, sodass der Mindestabstand gewahrt bleibt? Dass Bücher in Zeiten der Krise als geistige Nahrung wie auch als notwendiger Zeitvertreib verfügbar bleiben sollten? Dass der übermächtigen Konkurrenz von Amazon & Co. nicht noch mehr Vorschub geleistet werden sollte? Wie dem auch sei – es war ein schönes Zeichen in Zeiten des Shut Downs, dem öffentlichen Leben zwischen den Bücherregalen ein Refugium zu gewähren. Ein Zeichen, mit dem sich das zeitweise Verbot, allein auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, allerdings so gar nicht vereinbaren lässt…
Was aber sollte man lesen, vielleicht gerade jetzt? Mit Empfehlungen ist das ja stets so eine Sache, ganz abgesehen von Leselisten, die uns dereinst die Schullektüre verpflichtend vorschrieben, oder einem Kanon der unverzichtbaren Werke, egal ob von Marcel Reich-Ranicki oder wem auch immer aufgestellt. Soll ich es dennoch versuchen? Nun, García Márquez nannte ich schon. Ein praller, poetischer und ergreifender Roman über die Liebe, das Altern, die Erfüllung und vor allem die nicht endende Hoffnung. Das passt dann doch in diese Zeit, nicht wahr? Ich selbst entdecke gerade Margaret Atwoods „Der Report der Magd“. Der Kanadierin würde ich, unter uns gesagt, den nächsten Literaturnobelpreis zuerkennen. Auf jeden Fall habe ich mir schon die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ auf meine Merkliste gesetzt. Schlöndorffs Verfilmung als „Geschichte der Dienerin“ kannte ich natürlich schon; die literarische Vorlage war mir bisher unerklärlicherweise entgangen. Und das, wo ich doch eigentlich ein Faible für gesellschaftliche Utopien und Dystopien habe, was mich zum dritten Tipp bringt: Aldous Huxley und – nein, mal nicht die „Schöne neue Welt“, sondern – sein viel später erschienener letzter Roman „Eiland“, der mit der Insel Pala einen spannenden Gegenentwurf liefert, auch wenn die dortige (fast) ideale Gesellschaft am Ende durch eine militärische Invasion untergehen wird.
Das Nachdenken über eine künftige Gesellschaft, deren Wesen nicht die Rückkehr zur Normalität vor Corona sein kann, beschäftigt uns ja derzeit alle irgendwie. Das meint das eigene, private Leben in Partnerschaft, Familie und Freundeskreis ebenso wie die Zukunft von Wirtschaft und Arbeit, von Handel und Tourismus, von Umwelt und Kultur. Und da sind literarische Modelle so etwas wie fiktive Wegzeichen, die anregend sein können oder abstoßend, in jedem Fall aber zur Auseinandersetzung reizend. In diesem Sinne noch rasch zwei letzte Lektürevorschläge: Der Philosoph Richard David Precht hat mit „Jäger, Hirten, Kritiker“ eine Utopie der digitalen Gesellschaft entworfen, die mich in ihrer Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven überzeugt. Und mit dem Philosophen Wilhelm Schmid und seinen schmalen, gut lesbaren Bändchen wie „Gelassenheit“, „Vom Glück der Freundschaft“, „Die Kunst der Balance“ oder „Von den Freuden der Eltern und Großeltern“ kann man einiges über die Kunst des gelingenden Lebens lernen, was gerade in Zeiten wie diesen von Nutzen sein kann.
Zeiten wie diese werden auch die Literatur selbst, genauer gesagt ihre Produzentinnen und Produzenten anregen. Erste Texte zu Corona erscheinen bereits. Der 91jährige tschechische Autor Pavel Kohout hat sein Virus-Stück gerade in einer Onlinelesung aus einem leeren Prager Theater vorgestellt. Oft war die Literatur der Wirklichkeit voraus, jetzt darf und muss sie diese Realität verarbeiten, reflektieren, deuten. Wir stecken ja noch mittendrin und brauchen doch auch den Abstand, der relativiert. Was gestern normal war, scheint heute unendlich fern; die heutige Regel kann schon morgen außer Kraft gesetzt werden. Ob ich selbst darüber schreiben können werde, weiß ich noch nicht. Derzeit versuche ich – seit März offiziell „Altersrentner“ – damit klarzukommen, dass mein Übergang in den Ruhestand eines singenden, wandernden und reisenden Großvaters so ganz anders verläuft als gedacht. Der März-Urlaub auf La Gomera musste abgebrochen werden, der Harz ist aktuell eine verbotene Zone. Die für das erste Halbjahr geplanten Lesungen und Konzerte sind erst einmal abgesagt oder verschoben, weiteres muss man sehen. Dass in Krisen immer auch Chancen stecken, ist ein zuletzt viel beschworener Allgemeinplatz. Dennoch bewahre ich mir als Autor und Mensch so viel utopisches Potenzial, dass ich an eine Zukunft glaube, die kein Rückfall ins Gewesene sein kann, sondern in Vielem ein Innehalten, ein Besinnen und ein Neubeginn. Wahrlich, wir leben in spannenden Zeiten…
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