Samstag, 31. März 2012
Was uns behindert
30. März

Ich weiß ja nicht, wie es euch damit geht – auch mir liegt das Wohl von Kindern und Jugendlichen mit Handicap durchaus am Herzen. Sie sollten die bestmöglichen, konkret auf ihre jeweiligen körperlichen oder auch geistigen Defizite ausgerichteten pädagogischen Förderangebote erhalten, dargeboten von entsprechend ausgebildetem und motiviertem Fachpersonal in einem dafür optimal ausgestatteten Umfeld. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sagt ihr? Na ja, ganz so einfach ist es nicht, denn dafür käme noch ein Erfordernis hinzu, das ich als die „Kultur des gesellschaftlichen Umgangs mit gehandicapten Menschen“ bezeichnen möchte. Klingt ein bisschen umständlich, zugegeben, meint aber nichts anderes als die grundsätzliche Art und Weise, wie Behinderungen und Behinderte in einer Gesellschaft wahrgenommen und akzeptiert werden.
Bei den edlen Rothäuten (so viel Karl-May-Reminiszenz seit in dieser Zeit gestattet) wurden gerade geistig Behinderte als etwas Besonderes und Behütenswertes von der Gemeinschaft getragen, heißt es. Das kann ich nicht beurteilen, aber wie es zum Beispiel in Skandinavien läuft, das schon: Beim Bildungssystem des PISA-Klassenbesten Finnland verblüfft es ja viele, dass dort Sonder-, Förder-, Hilfs- oder wie auch immer benannten Extra-Schulen für gehandicapte Kinder und Jugendliche schlichtweg fehlen. Nicht, dass es in Finnland keine Hör- oder Sehgeschädigten gäbe und der IQ aller stets über der ominösen 70 (oder 80) läge, nein, das sicher nicht, aber es gibt dort eine lange Tradition der unmittelbaren und sozusagen organischen Einbeziehung dieser Menschen in den Alltag der finnischen Gesellschaft. Und die Lehrerbildung des kleinen Landes berücksichtigt die zweifellos vorhandenen Besonderheiten des Umgangs mit ihnen von vornherein und vermittelt in Studium und Weiterbildung allen Pädagogen die erforderlichen Kompetenzen (müßig zu erwähnen, dass man in Finnland eine Eignungsprüfung und ein Vorpraktikum absolvieren muss, wenn man Lehrer werden will, denn das Pädagogikstudium ist dort nicht – wie hierzulande oft genug – das Auffangbecken für jene, die nicht wissen, was sie sonst machen sollen, sondern Ausdruck eines echten Wunsches, vielleicht sogar einer „inneren Berufung“). Zudem sind die Schulen entsprechend vorbereitet, also mit den für bestimmte Behinderungen erforderlichen Technologien ausgestattet, mit geeigneten Räumen und zusätzlichem pädagogischem Personal. Und all die tollen Begriffe von „Integration“ oder „Inklusion“, die unser Bildungswesen braucht, um gehandicapte Schülerinnen und Schüler in die Regelschulen zu bringen, sind dort überflüssig, wo eine Gesellschaft in ihrer grundsätzlichen Verfasstheit bereits integrativ funktioniert. Das also meine ich mit der Art und Weise, wie Behinderung wahrgenommen wird – eine Frage der gesellschaftlichen Kultur.
Die OECD fordert nun auch vom deutschen Bildungssystem diese Inklusion. Scheinbar sehr human und fortschrittlich, nicht wahr. Aber wie sieht die Realität aus? Quasi über Nacht sitzen nun plötzlich in den „normalen“ Grund- und Sekundarschulklassen Kinder und Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Handicaps vor überforderten Lehrkräften, die darauf nicht ansatzweise vorbereitet sind. Es fehlen technische Lese- und Hörhilfen; Klassengröße und Raumsituation können nicht befriedigen, die Umgangsformen unter den Gleichaltrigen sind - da nicht geübt - oft genug problematisch, Eltern nicht behinderter Kinder laufen Sturm gegen diese formal herbeigeführten Maßnahmen, und der unterstützende Einsatz der bisherigen Förderschul-Lehrkräfte funktioniert bestenfalls auf dem Papier. Kein Wunder, dass der Unmut wächst. Erziehungswissenschaftler prophezeien inzwischen, dass die Anzahl der Schulversager in Sachsen-Anhalt unter diesen unausgegorenen Rahmenbedingungen deutlich ansteigen werde (sie ist ohnehin der traurige Spitzenwert bundesweit). Das Kultusministerium beeilt sich zu versichern, dass es das keineswegs glaube – es klingt wie das Pfeifen im Walde. Denn den Personalmangel kann man auch in Magdeburg nicht leugnen. Und das Problem des gerechten und angemessenen Umgangs mit förderbedürftigen jungen Menschen ist nicht am grünen Tisch zu lösen. Dazu bedürfte es im engeren Sinne deutlicher Bewegungen in der Lehrerbildung, der Schulausstattung, der transparenten Kommunikation in Bildungsfragen – im weiteren Sinne jedoch einer grundsätzlich veränderten gesellschaftlichen Kultur. Und ich gestehe, dass mir bei diesem Thema jegliche humoristische Pointe fehlt, denn – Leute – es geht hier um die Kinder!

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Danke für diesen hervorragenden Artikel zu einem großen gesellschaftlichen Problem!

Zu Finnland wurde mir von einer engagierten Mutter aber auch gesagt, dass die schweren Fälle mit Behinderung nicht in die Schulen integriert werden, sondern - weit weg von der Öffentlichkeit - im "stillen Kämmerlein der familiären Versorgung" aus dem gesellschaftlichen Alltag fern gehalten werden sollen.

Diese Mutter ist selbst Mutter einer Tochter mit Halbseitenlähmung und kognitiven Einschränkungen. Sie ist Gegnerin des Inklusionsgedankens an Schulen, da sie befürchtet, dass aufgrund des Spargedankens die Förderschulen weg-gespart werden könnten (langfristig) und nur noch die Kinder eine Schule besuchen dürfen, die mit "Ach & Krach" eine Regelschule schaffen.

Gleichzeitig ist Eines klar: während an Förderschulen z. B. große Fuhrparks für spezielle Sportgeräte (Fahrräder, Rollbretter, Dreiräder, Rollatoren usw. ) vorhanden sind und die dortigen Therapeuten den Kindern viele unterschiedliche Bewegungsangebote machen können, wird diese Möglichkeit an keiner Regelschule eingeräumt werden können. Man könnte nicht flächendeckend solche Bewegungshilfsmittel in den unterschiedlichsten Größen vorrätig halten. Daher haben Förderschulen auch Vorteile (die Nachteile sind klar: für die Kinder, die kognitiv ohne Einschränkung an einer solchen Schule sind, wird der Weg in den ersten Arbeitsmarkt erschwert, da das Bildungsniveau nicht vergleichbar mit Regelschulen ist).

Aber Deine Gedanken dazu, dass es eine andere Gesellschaftskultur im Umgang mit Behinderten geben muss, kann ich nur unterstützen!

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Stimmt, Zarina, auch bei den Finnen gibt es neben viel Licht auch Schatten. Und Modelle kann man ohnehin nicht Eins-zu-eins übertragen (was ich angesichts der dänischen Schulen Anfang der 90er Jahre noch glaubte). Aber die aktuelle Federstrich-Politik hierzulande macht nichts besser und vieles schlimmer. Und zu glauben, mit dem Schlagwort Inklusion löse man das Problem der mangelnden Integrationsmöglichkeiten Behinderter in unserer Gesellschaft, ist einfach kurzsichtig...
Zur skandinavischen Kehrseite übrigens noch ein Literaturtipp: "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels" von Peter Hoeg thematisiert diesen eugenisch-pädagogischen Traum von einer sauberen, hellen Gesellschhaft, indem die "störenden Elemente" ausgeblendet und ausgemerzt werden.

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Du, sei mir nicht böse, wenn ich nicht bei Peter Hoeg nachlese - mir reichte das Forenthema zur Spätabtreibung bei Netzwerk Enbeka .

Die perfekte Gesellschaft, die sich da manche vorstellen. Für mich ist entstehendes Leben immer noch ein Wunderwerk der Natur. Und wenn man sich dazu entschließt, sich fortzupflanzen, sollte man auch seiner Lebensaufgabe gerecht werden. Ein Kind könnte auch (wie viele Male im Jahr in Deutschland) durch einen Unfall behindert werden.

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