Dienstag, 12. Mai 2020
Wie weiter, und wenn ja, wohin?
Was ist da los, fragt sich mancher verwundert, und andere wundert gar nichts mehr. Die zu Beginn der Corona-Krise viel beschworene Solidarität, die neue Bescheidenheit, der fürsorgliche Umgang miteinander – all das scheint vergangen, vergessen, nie dagewesen. An ihre Stelle treten öffentlichkeitswirksame Proteste gegen alles und jeden, was mit Corona in Verbindung gebracht werden kann, und es entstehen – auf der Straße wie im Netz – unheilige Allianzen, die von der jüdischen Weltverschwörung über den Impfdiktator Bill Gates und seinen schwarzgelockten Handlanger in der Berliner Charité bis zur notstandsgesetzgebenden Merkel-Diktatur endlich erkannt haben wollen, was die Welt im Innersten… nun, nicht gerade zusammenhält, sondern eher auseinandersprengt. Sachliche Argumentation ist kaum möglich, zumal die Beweggründe der teils erstaunlich aggressiven Spaziergänger ganz unterschiedlich sind und dieses schillernde Gebräu hervorbringen, das von ehrlich (um ihren Arbeitsplatz, ihre Perspektive und ihren Status) besorgten Menschen über notorische Quer-Frontler und -Ulanten bis zu rechten Extremisten, antidemokratischen Reichsbürgern und vermeintlich linken Sektierern reicht. Verblüffend zudem, wie perfekt diese Szene bereits auf der Klaviatur ihrer eigenen Medien spielt. Aber das muss sie ja auch, weil die Staatsmedien bekanntlich zur allgemeinen Verschwörung gehören. Und dass ein Mund-Nasen-Schutz nur die softe Variante eines ideologischen Maulkorbs ist, müsste ja nun auch jedem klar geworden sein, oder?

Ich will an dieser Stelle keineswegs so tun, als sei ich von allem überzeugt, was da in den letzten Wochen angeordnet wurde und passiert ist, und mein Verständnis ist oftmals an Grenzen gestoßen – an fachlich-sachliche (wer von uns versteht schon, was ein Virus wirklich ist?) ebenso wie an moralisch-ethische (wenn 92jährige Mütter versterben, ohne dass man sie dabei in den Arm nehmen darf – das kann ich belegen)! Ich wurde zudem Mitte März aus dem Urlaub im Süden zurückbeordert und war darob anfangs ziemlich sauer – aber ehrlich: In einem spanischen oder italienischen Krankenhaus auf dem Höhepunkt der Pandemie zu landen wäre keine erstrebenswerte Alternative gewesen. Auch sind mir sämtliche mühsam organisierte Lesungen und Konzerte im ersten Halbjahr weggebrochen, was sicher nicht meine Existenz gefährdet, wohl aber mein Ego, ein wenig zumindest. Dennoch bin ich grundsätzlich überzeugt, dass unsere bundesdeutsche Republik und ihre Repräsentanten (m/w/d) auf oberster wie subsidiärer Ebene angesichts der schwer kalkulierbaren Herausforderungen eine insgesamt gute Figur gemacht haben.

Ich will mich aber auch um meine Kritikpunkte nicht drücken. Im Gegenteil – ich würde gern darüber in eine offene Diskussion eintreten und dies keineswegs mit dem Anspruch verbinden, recht zu haben und recht zu behalten. Also – hier kommen meine kritisch-konstruktiven Thesen:

• Ich sehe den plötzlichen Boom der Digitalisierung im Bildungsbereich skeptisch. Da wird der Eindruck vermittelt, es könnten wenn nicht alle, so doch viele Probleme gelöst werden, wenn nur die richtige Technik in Schulen und Schülerhänden vorhanden wäre. Lehrermangel? Kein Problem! In MOOCs haben schon Tausende gemeinsam „gelernt“! Und beim Homeschooling hat man zudem auch noch eine funktionierende Toilette mit fließend warmem Wasser – wenn das kein Fortschritt ist…
• Ich halte die Globalisierung in ihrer in den letzten Jahren und Jahrzehnten realisierten Form für grundsätzlich änderungsbedürftig. Hier ist nicht der Ort, um ins Detail zu gehen, aber wenn wir es auf diesem Planeten nicht schaffen, die Ungleichheiten der Welt (und die innerhalb unserer eigenen Gesellschaft) abzumildern, dann fliegt uns dieser Planet irgendwann um die Ohren. Und die Globalisierung war bisher eher ein Turbolader, der die Ungleichheiten vertieft und ihre Vertiefung beschleunigt.
• Ich glaube, wir müssen dringend eine Debatte führen, was wir unter Begriffen wie Experte oder Eliten verstehen. Die Intellektuellenfeindlichkeit in Teilen dieser Gesellschaft ist gravierend und erschreckend. Dabei ist jeder von uns irgendwo ein bisschen Experte und anderswo auf das Expertentum anderer angewiesen. Konfuzianisch gedacht müssten wir lernen, das eine vom anderen zu unterscheiden. So zu tun, als hätten wir die absolute Weisheit mit Löffeln gefressen, bringt uns jedenfalls nicht weiter („Die Partei, die Partei hat immer recht…“).
• Ich plädiere für eine Renaissance des utopischen Denkens. Frühere Gesellschaften hatten noch ein Ziel vor den Augen (ob es erreichbar war, sei mal dahingestellt). Das Ideal eines Höher-Schneller-Weiter-Mehr-Kapitalismus hat sich nun sogar in den Augen von konservativen Politikern überlebt. Was setzen wir an dessen Stelle? Eine düstere Dystopie des Weltuntergangs oder das Bild eines solidarischen Miteinanders zum Wohle aller – inklusive eines zeitgemäßen und fairen Generationenvertrages, der den Jungen Chancen eröffnet und die Alten weder ins gesellschaftliche Abseits drängt noch sie überbehütend ihrer Freiheiten beraubt. Meine Präferenz ist dabei klar…
• Ich hoffe, dass in diesem Zusammenhang eine Wertediskussion geführt werden kann, die sowohl bewahrenswerte Traditionen einschließt als auch neue Entwicklungen aufgreift, die kulturelle Vielfalt als Bereicherung begreift und ihre Existenz nachhaltig absichert, die gemeinschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten höher hängt als individuelle Besitzstände und die die berühmten sechs Worte „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ mit konkretem Leben füllt. Ein ganz konkreter Aspekt fällt mir in diesem Zusammenhang auch gleich ein: Statt eines „Auto-Gipfels“ in Corona-Krisenzeiten wäre ein „Pflege-Gipfel“ wesentlich sinnvoller gewesen, der zudem nicht auf kurzfristigen Applaus und einmalige Sonderzahlungen für jene unverzichtbare Klientel hinausläuft, sondern auf eine grundsätzliche Neuordnung der sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Werte und Wertigkeiten. Dafür wäre es auch jetzt noch nicht zu spät.

Sicher, das sind nur fünf Facetten eines insgesamt komplexen und diffizilen Geflechts von Ursachen und (Wechsel-)Wirkungen. Aber irgendwo muss man ja anfangen. Nur sollten wir damit nicht mehr zu lange warten.

Ach ja – eins noch zum Schluss: Nachdem der Bedarf an Toilettenpapier inzwischen wieder gedeckt werden kann, droht nun der nächste existenzielle Engpass: Die Aluminiumfolie wird knapp! Zweckentfremdet zu schicken und vernunftabweisenden Hütchen oder besser gleich Ganzkörperhüllen. Was für ein Glanz in unseren Landen!

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